Sweet Structures
STUTTGART: 11. September - 18. Oktober 2008
Hereinspaziert, liebe Damen und Herren, nur keine falsche Scham, bitte keine unnötige Zurückhaltung, runter vom Teppichboden und auf in den Boxring, ob blaues Auge oder Süße des Seins: Simone Westerwinter lädt mit Zuckerbrot und geballter Faust … so treten Sie ruhig näher, verehrtes Publikum, zögern Sie nicht, tauchen Sie ein in die Welt der rosa Oberflächen und hellblauen Oberflächlichkeiten, suchen Sie in deren Tiefe nach dem, was unser kleines Universum zusammenhält, suchen Sie, bis sich Ihnen die Strukturen offenbaren, suchen Sie, bis sich alles ordnet, bis sich alles richtet in senkrecht und waagrecht, bis sich alles benennen lässt in 'dieses' und 'jenes', bis sich alles beantworten lässt mit 'ja' und 'nein', doch halten Sie nicht inne, geben Sie nicht auf, suchen Sie weiter bis alles wieder zusammenstürzt in das übliche Chaos, das Fehlen der letzten Gewissheiten, bis der gewöhnliche Schmutz den Glitter verdeckt, die Grenze von Kunst und Nicht-Kunst darunter versinkt, doch seien Sie nicht traurig, meine Damen und Herren, wir bieten Ihnen Dinge, die Sie bei Simone Westerwinter noch nie gesehen, fein Gesponnenes und fein Gezeichnetes, dazu Malerei auf allerzartester Seide, und: mögen Sie Asien?, liebe Damen und Herren, dann kommen Sie, zaudern sie nicht, nur keine falsche Scham, bloß keine unnötige Zurückhaltung ... Sie werden doch sehnsuchtsvoll erwartet.
Augustenstr. 87-89
Öffnungszeiten: Donnerstag – Samstag, 14.00 – 19.00 Uhr
Simone Westerwinter – Sweet Structures (engl.)
Step right up, Ladies and Gentlemen, don't be ashamed, please, do not hesitate, get off the carpet and step into the box ring, whether a black eye or the sweetness of existence: Simone Westerwinter is inviting you with a carrot and a clenched fist ... so roll on up, dear visitors, don’t hesitate, jump into the world of pink surfaces and light blue superficialities, search in their abyss for what is holding our little universe together, search until you find structures, search until everything forms into order, until everything aligns into vertical and horizontal, until you can name everything as "this" or "that", until you can answer all the questions by "yes" or "no", but don’t stop, don’t give up, keep on searching until everything is collapsing again into the usual chaos, into the absence of final unquestionableness, until the ordinary dirt is covering up the glitter, the line between art and non-art, but don’t be sad, Ladies and Gentlemen, we are offering you things you have never seen from Susanne Westerwinter, delicately spun and delicately drawn, and also painting on tenuous silk, and: do you like Asia?, well, Ladies and Gentlemen, step right up, don’t falter, don't be ashamed, please, do not hesitate ... you're arrival eagerly awaited.
Augustenstr. 87-89
Hours: Thursday – Saturday, 2 p.m. – 7 p.m.
Simone Westerwinter
JA bis 24 Uhr
in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musiker Uwe Schenk sowie der Fotografin Sandra Schuck.
BERLIN: 5. September - 4. Oktober 2008
Mit der Minioper "JA bis 24 Uhr" verbindet die Konzeptkünstlerin Simone Westerwinter ihren performativen Ansatz mit der Arbeit des Komponisten Uwe Schenk und der Fotografin Sandra Schuck zu einem visuellen und musikalischen Gesamtkunstwerk.
Auf der Galerie-Bühne stand während der Uraufführung am 5. September 2008 zunächst einmal niemand außer den geladenen Gästen sowie einer überproportional großen Schar junger Kellner und Kellnerinnen, die sich liebenswürdig um das Vernissagepublikum bemühten. Während das so bestens versorgte Publikum sich ganz den Ausstellungsstücken oder sich selbst widmen konnte, verwandelten sich die Bediensteten vor den Augen des verblüfften Publikums in regelmässigen Abständen abrupt in ein Ensemble lauthals singender Darsteller. Wie auf ein geheimes Zeichen hin verdunkelte sich das Galerielicht, farbige Scheinwerfer tauchten den Galerieraum in wechselndes gelbes oder purpurnes Licht. Die Kellner und Kellnerinnen formiertern nach einer licht-programmierten Partitur einen Chor und verkündeten ihr eingeübtes Arbeitsethos mit viel Pathos durch eilig hervorgezogene Handmikrofone zu mitreißender Begleitmusik, die aus Lautsprechern ertönte. Für einen kurzen Moment wurde die für die Galerie charakteristische, nach hinten ansteigende hölzerne Rampe zum Bühnenboden, auf dem eine Musical-artige Inszenierung dargeboten wurde. Sogleich verfielen die Darsteller jedoch wieder in eine zuvorkommende Haltung, in der sie lautlos ihre Arbeit am Galeriepublikum verrichteten, ganz als wäre nichts geschehen. Diese ungefähr dreiminütigen Einlagen wiederholten sich am Eröffnungsabend nach einem fest vorprogrammierten Ablaufplan alle zehn Minuten in der Zeit von 20 bist 24 Uhr.
Die Ausstellung zeigt die Performance als zwanzigminütiges Video vom Monitor auf der Plattform im höher gelegenen hinteren Ausstellungsbereich, der durch einen raumfüllenden violetten Bühnenvorhang mit goldenen Fransen abgetrennt ist. Im vorderen Ausstellungsbereich vor dem Vorhang sind - dem Foyer eines Theaters ähnlich - gerahmte und ungerahmte einzelne und als Serie zusammengehörende Papierarbeiten und Collagen als arrangiertes Ensemble ausgestellt. Hier finden sich sämtliche Noten und die vertonten Songtexte der Minioper, sowie ein Gruppenfoto aller Beteiligten mit Autogrammen (alle ohne Titel, 2008). Ihnen gegenüber hängen Collagen aus bunt schillernden Portraitfotografien, verknüpft mit handschriftlichen Bildunterschriften wie "Ich suche ein Dauerdienstverhältnis" im Stil unbeholfener Bewerbungsunterlagen (alle ohne Titel, 2008). Vervollständigt wird die Gesamtschau durch das Plakat zur Ausstellung und eine alte abgegriffene Gesetzestafel, wie sie in den siebziger Jahren in Gaststätten hing, auf der mit vielen JAs und NEINs das Gesetz zum Schutze der Jugend abgedruckt ist.
Hier im vorderen Teil des Ausstellungsraums stehen sich stilisiert und verfremdet die zwei eigentlichen Protagonisten der Oper in Form von Kunstwerken gegenüber. Einerseits die einzelne Person, die sich auf dem Stellenmarkt etwas ungeübt bis zur Anbiederung anpreist, und auf der anderen Seite eine Dienstleistungsgesellschaft, die vom Arbeitnehmer "hundert-prozentigen Einsatz" bis zur Verausgabung fordert. Die Musik macht sich dabei abwechselnd zum Komplizen beider Seiten. Sowohl der Marsch "Geht es dem Unternehmen gut, dann geht es auch dem Team gut" als auch die Schnulzenhymne "Wo bist Du?" setzen ganz bewusst auf die propagandistische Wirkung eingängiger Melodien, den Pathos der durch phonal und rhythmisch klug gesetzte Schlagworte entsteht, und der schon seit jeher die Kraft hat Menschen zu binden, arbeitswillig zu halten und gefügig zu machen. Eben ganz im Sinne des Unternehmens.
Doch schon im nächsten Song des Abends "Po" ist die Musik plötzlich Verbündete der einzelnen Person, indem sie ihr die Plattform zur ironischen Brechung der oftmals unangenehmen Rahmenbedingungen des Arbeitslebens bietet. Der dadaistisch anmutende Text der wilden Polka macht sich wortspielend über das ewige Hinterherrennen nach Zeugnissen und Arbeitsunterlagen lustig und hat dadurch für die einzelne Person eine rebellische und somit befreiende Wirkung. Die verwendeten Textstellen sind sämtlich Zitate aus Stellengesuchen und Stellenausschreibungen des Gastronomiebereichs, wie man sie im Internet finden kann, als auch Textfragmente des Jugendschutzgesetzes.
Auch die Photographie in den Bildcollagen (alle ohne Titel, 2008) unterstützt beide Seiten, indem sie zunächst die Anmutung klassisch formeller Portraitphotographie bietet, wie sie für Bewerbungsunterlagen üblich ist. An dieser Stelle jedoch übererfüllt die Photographie den geforderten biederen Standart. Die Protagonisten wurden kunstvoll wie Bühnenstars in farbige Lichtkegel gesetzt. Im malerischen Licht der Inzenierung sehen sie den Betrachter als selbstbestimmte Persönlichkeiten voller Sehnsüchte mit einem Leuchten an, das weit über das geforderte Normalmaß einer Bewerbung hinausgeht.
Das Thema Dienstleistungsgesellschaft und die Positionierung des Einzelnen darin wird durch "JA bis 24 Uhr" in die Galerie geholt. Simone Westerwinter, Uwe Schenk und Sandra Schuck geht es jedoch nicht nur um eine sozialkritische Studie. Im Gegenteil: Hier wird Opportunismus weder nur angeprangert, noch ganz ausgeschlossen. Intoniert der Chor die Songs und erschallt die Musik dazu aus den Lautsprechern, entsteht wie von selbst eine merkwürdig ambivalente Stimmung. Anhand eines ironisch gebrochen Spiels mit Rollentausch, Zitaten und Anklängen ästhetischer visueller und musikalischer Art soll der Betrachter lustvoll in ein Geschehen gezogen werden, dessen einzelne Bestandteile transparent bleiben. Hier soll nur gezeigt werden, daß das, was gewünscht oder gefordert wird, sich sehr verschieden anfühlen kann und offenbar eine Sache der Auslegung und des Standpunkts ist. Es kann die angestrebten Vorteile bringen oder sich auch in eine monströse Zumutung verwandeln. Die Grenzen verschwimmen hier wie andernorts im Takt der Unterhaltung. Die Musik spielt für das Publikum. Schauspieler und Sänger spielen für die Gäste Kellner und Kellnerinnen. Die Künstler schauspielern möglicherweise. Vielleicht spielt auch das Galeriepublikum?
Uraufführung der Minioper: Freitag, 5. September 2008, 20.00 bis 24.00 Uhr
mit den Darstellern:
Anna Görgen
Ines Martinez
Katja Steuer
Martin Langenbeck
Sebastian Scheuthle
Video: David Buob.