GABRIEL ROSSELL-SANTILLÁN

Gabriel Rossell Santillán »Wirraritari, rundherum die Wüste«
In seinen Fotografien, Videos, Objekten und Installationen setzt sich der 1977 in Mexiko Stadt geborene und in Berlin lebende Künstler Gabriel Rossell Santillán mit der Transformation kulturellen Wissens auseinander. Den Aufbau und die Struktur seiner Arbeiten schöpft er aus dem Studium der Malerei, Zeichnung, Literatur und Sozialwissenschaften. Die präzise und klare Setzung einerseits und die offene und organische Annäherung andererseits kennzeichnen seine Arbeitsweise und den Umgang mit dem Material. Seine Arbeiten beruhen auf spezifischen Forschungen und ethnographischen Feldarbeiten in Stuttgart, in Nayarit (Mexiko) bei der Huichol Gemeinde sowie im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem. In seinem Huichol-Projekt hat er eine Methode entwickelt, mittels derer er den ethnologischen Wissensapparat mit der Darstellung von Ritualen und kulturellen Praktiken der Huicholes auf eine feinfühlige Art und Weise verbindet. Auch wenn Gabriel Rossell Santilláns künstlerisches Interesse weit über bloß formale und ästhetische Fragestellungen hinausgeht, manifestiert es sich doch gerade in der tiefgreifenden Verbindung aus geschichtlichen, anthropologischen, sozialen wie kulturellen Inhalten mit der Charakteristik seines jeweiligen künstlerischen Mediums und Materials. So dient ihm beispielsweise eine in Mexiko traditionell hergestellte Zuckerglasur als Projektionsfläche seiner Videoarbeit, die dadurch einen fremdartig sanften Schimmer erhält. Eine Kolonie von Ameisen jedoch, die über die Ausstellungsdauer hinweg den Zucker abbaut und verspeist, hält das Medium entsprechend seiner Botschaft – einer Erzählung von und über die Huicholes – in einem stetigen Prozess der Transformation.

Gabriel Rossell Santillán »Wirraritari, rundherum die Wüste« (Engl.)
In his photography, videos, objects and installations, artist Gabriel Rossell Santillán born in Mexico in 1977 and living currently in Berlin, struggles with the transformation of cultural knowledge. The assembly and structure of his work comes out of his studies in painting, drawing, literature and social sciences.What characterizes his working style and the way he handles material, is on one side his precise and clear context and on the other side his open and organic approach. His work is based on specific research and ethnographic field work done locally in Stuttgart, in Mexico (Nayarit) in the Huichol community and at the Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. In his Huichol project he developed a method in which he connects, in a delicate manner, the portrayal of rituals and cultural practices of the Huicholes with his ethnological knowledge. Although Gabriel Rossell Santillán's artistic interests go far beyond only formal and aesthetic questions, he nevertheless manifests a clear and profound connection with historical, anthropological, social and cultural contexts maintaining the characteristics of his current artistic mediums and materials. For example, he uses a traditionally produced Mexican sugar icing as a projection screen for his video work, creating a soft, peculiar shimmer. A colony of ants however, over the duration of the exhibition tear apart and eat away at the sugar, in which the medium stays consistent with its message - a narration of and about the Huicholes - in a steady process of transformation.

 

 

Gabriel Rossell Santillán

»Wirraritari, rundherum die Wüste«

Von Andrea Meza Torres (C) Parrotta Contemporary Art

Als Dionisio die Ritualobjekte im Ethnologischen Museum ansprach, merkte er, dass diese ihm nicht antworteten. In Berlin-Dahlem erfuhr der Maracame Dionisio, ein Schamane der Wirraritari, dass sie kein Leben mehr besaßen. Die Mitarbeiter des Ethnologischen Museums hatten 1942 die Sammlung von Artefakten der Huicholes mit Arsen, D.D.T. und Quecksilber behandelt und vergraben. „Huichol“ ist der Name, den man den Wirraritari gab. So überlebte die Sammlung die Insekten und die Bombardierungen - allerdings vergifteten die Mittel auch die Objekte. Nach dem Kriegsende ging ein Teil der Sammlung nach Moskau, während der andere in Dahlem blieb. 1951 wurden die ethnographischen Objekte von Moskau nach Leipzig geschickt, bevor sie 1992 im Magazin des Ethnologischen Museums in Dahlem landeten. Erst dann war die Sammlung fast wieder vollständig.

Dionisio berührte und bewegte die Ritualobjekte mit Plastikhandschuhen und erzählte Xaureme die mit ihnen verbundenen Geschichten und Mythen. Es war im Museum, wo der Maracame Stücke seiner Familiengeschichte – Behälter intimer Erinnerungen – wiederfand und seinem Lehrling die Bedeutungen der Ritualobjekte erklärte. Die Erzählungen des Maracame im Museum gaben der Huichol-Sammlung einen Sinn. Durch den Kontakt zwischen dem Maracame und seinen Objekten entstand ein momentaner Erinnerungsraum zwischen Santa Catarina Cuextematitlán und dem Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. Allerdings konnte der Maracame, nach dem Ende der Filmaufnahmen, kein einziges Ritualobjekt mit nach Santa Catarina Cuextematitlán nehmen. Die Ritualobjekte und die gesamte Huichol-Sammlung sind das Eigentum der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

In Beziehung zu treten mit persönlichen Objekten, welche Erinnerungen hervorrufen, kann heilen - und zwar nicht nur diejenigen, die erinnern, sondern auch die Sammlungen, die als kulturelles Erbe gelten. Der Erinnerungsraum, den das Huichol-Projekt zustande bringt, löst die koloniale Projektion „fremdes Eigentum“ momentan auf. Die koloniale Aura verlässt die Ritualobjekte und diese hören auf als „gefrorenes“ und „fremdes“ Eigentum zu existieren.

Auf Zuckerplatten projiziert sehen wir ein Video, in dem der Maracame sein Eigentum in die Hand nimmt (Eigentümer ist er, da er die Bedeutung der  Ritualobjekte erinnert); gleichzeitig hören wir eine Erzählung in deutscher Sprache in der wir erfahren, dass die Huichol-Sammlung in die deutsche Geschichte eingebettet ist. Durch Video und Ton zeigt die Installation, dass die Sammlung simultan zwei Narrativen zugeordnet ist – und zwei „Besitzer“ hat. Ein Narrativ sehen wir in Bildern (den Wirrarika können wir hören, nicht jedoch verstehen, aber den Rhythmus seiner Sprache können wir wahrnehmen), ein anderes Narrativ ist textbasiert und auf Deutsch gut hörbar (wenn wir die Quelle des Tons gefunden haben). Video und Ton referieren unterschiedliche Erfahrungswelten, welche in der Installation zusammenkommen. 

Allerdings ist diese vollkommene Simultanität nur vorübergehend. Die tatsächliche Begegnung des Maracamen mit seinen Objekten sowie mit der deutschen nationalen Meistererzählung war zeitlich begrenzt (obgleich der Besuch des Maracamen im Museum und in Berlin längst von den Ritualobjekten im Voraus bestimmt worden war). Der gemeinsame Raum für all diese Erfahrungswelten wird die Installation des Huichol-Projektes selbst, denn sie ermöglicht Beziehungen und eine materielle Kontinuität.

Die Reflexionsfläche der Zuckerplatten, das dunkle und dennoch scharfe Bild des Obsidians, die organische Bildeinfärbung des Holzes und die mediale Fläche der Satellitenschüssel bilden ein Beziehungsgefüge, welches eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht. Allerdings kommt eine Kontinuität zwischen Zeiten, Räumen, Erfahrungshorizonten und Begegnungen nur durch die halbe Verdunkelung (opacité) der Materie zustande. Die Installationen von Gabriel Rossell Santillán verkörpern keine „transparenten“ Räume. Denn nur die opacité kann heilen. 

1990 prägte Édouard Glissant seinen Begriff opacité als ein Plädoyer für eine Relation zwischen „Differenzen“, welche nicht auf eine ständige Reduktion und Erforschung des „Anderen“ setzt. Für Glissant kann die Relation nicht im Feld des universellen Ideals der Transparenz stattfinden, denn in diesem Feld werden die Komplexität des Anderen sowie der Differenzen reduziert. So plädiert Glissant für das Recht auf „halbe Dunkelheit“ („le droit à l’opacité“), wodurch sich Beziehungen artikulieren sollen. Im Huichol-Projekt absorbieren die Materialien die Bilder und schützen deren sakrale Inhalte, weshalb die Materialität als ein Mittel für die Projektion/Installation der Rituale fungiert. Das Sakrale kann nicht im vollen Licht (in „Transparenz“) gezeigt werden, weshalb die Zwischenräume des Huichol-Projektes durch opacité entstehen . Denn in halber Dunkelheit sehen wir die Geheimnisse und spüren die Prozesse des Heilens.

Zeitgebundenheit und opacité prägen auch die Installation des „Dampfbildes“. Das durch den Dampf vollkommene Bild ist nur einige Minuten zu sehen, bevor er verschwindet. Andererseits, wenn das Bild in voller Klarheit zu sehen ist, sieht der Betrachter kein frontales Portrait und keine direkten Blicke. Es ist die Aufnahme eines Schwellenzustands, ein Bild der Bewegung und der Mutation, der durch die Hitze und Feuchtigkeit auch auf den Körper des Betrachters wirkt und sich seinem Blick entzieht. Das „Dampfbild“ ist nicht für die ewige ästhetische Kontemplation gedacht – das stabile Bild ist nur eine momentane Erscheinung. Ebenfalls sind die Bilder der Wiederbegegnung des Maracamen mit seinen Ritualobjekten im Ethnologischen Museum durch lebendige Ameisen durchbrochen, ebenso wie die aus Piloncillo gemachten, typographischen Zeichenkörper aus dem Jahr 1500, von Wespen verzehrt werden.

Die Werke von Gabriel Rossell Santillán befassen sich auf vielfältige Weise auch mit der/den Route(n) des Zuckers – der/den Geschichte(n) eines Rohstoffes. In Platten umgewandelt, fungiert der Zucker als eine Reflexionsfläche, welche die im Huichol-Projekt umgekommenen Ritualobjekte belebt. Aber auch rahmt der Zucker die Photographien eines Friedhofes von Nayarit, in denen Zuckerdampf abgebildet ist. Der süße Dampf, der aus einer Zuckerraffinerie neben dem Friedhof aufsteigt und die Gräber und Blumen in den Photographien verklärt, materialisiert Gabriel Rossell Santillán als Zuckerrahmen. An den Grenzen der Bilder sedimentiert, erscheint der Dampf in harter Form. Auf der Tonspur des Videos, in dem ein Wagen mit Zuckerrohr, der die Zuckerraffinerie beliefert zu sehen ist, sind Narcocorridos (Lieder über den Drogenhandel, welche die Mitarbeiter der Zuckerraffinerie während der Arbeit singen) zu lesen. In seinen Arbeiten fragt Gabriel Rossell Santillán nach den vergangenen und zukünftigen Routen des Zuckers. Welche kulturellen Prozesse sind in Mexiko mit den Geschichten des Zuckers verbunden? Wie entstehen durch Migration und Drogenhandel neue Traditionen innerhalb der Zuckerrohrplantage?

Jenseits der Materialität, ist die Wahl der Bilder ein wesentlicher Aspekt in den Werken von Gabriel Rossell Santillán. Der Ausschnitt der Aufnahmen und ihre Präsentation sind Teil des Heilungsprozesses – Beziehungsgefüge, die durch opacité geprägt sind. In der Installation „Royal Rubi“ wird das Bild der Tuchverkäufer aus dem prächtigen Kontext des globalen Tourismus selektiert, ausgesondert und durch den Blick der Malerei verfilmt. Auf eine Keramikplatte projiziert, erscheinen die Tuchverkäufer wie eine orientalische Utopie. In Wirklichkeit sahen sie neben dem großen und luxuriösen Touristenschiff (Royal Rubi), auf dem Gabriel Rossell Santillán den Film drehte, unbedeutend klein aus. Durch das Warten der Touristen auf dem Schiff inszenierten die Tuchhändler sich selbst und ihre Ware vor einer Schleuse. 

Die Hervorhebung eines kleinen Bildausschnittes und das Verdunkeln des größeren Tourismuskontextes heilt im Rahmen des Kunstwerkes die Praxis des Tuchhandels. Die Installation holt das orientalistische Bild der Tuchverkäufer raus aus dem prekären und gefährlichen Zustand „neben“ und „unter“ dem Massentourismus. Gabriel Rossell Santillán belichtet das Nebeneinander lokaler und globaler Ebenen neu. Indem er ein lokales Bild nimmt, und es von den zentrifugalen Effekten der Macht und der Hierarchien entfernt, vermindert er die Effekte der „Royal Rubi“. In diesem Kontext erscheint die Installation als ein politischer Akt. Denn geheilte Bilder können weiter existieren und neue Routen einnehmen – neue Lebenswege und Lebensräume einschlagen.

Édouard Glissant prägte den Begriff opacité in seinem Buch Poétique de la relation. (1990).

Hier bezieht sich die „Transparenz“ nicht auf durchsichtige Materie (wie Kristall oder Diamanten), sondern auf den Wahrheitsanspruch nationaler Erzählungen. Denn diese lineare Meisternarrativen verschieben „nicht passende“ Erscheinungen zum Rand.

Der „Piloncillo“ ist ein Beiprodukt der Zuckerraffinierung.