Picknick am Wegesrand
Picknick ist etwas Schönes, Sinnliches, eine Pause die man sich gönnt, ein fröhlicher Moment, ein genussvoller Augenblick der Stärkung.
Eine karierte Tischdecke im Grünen. Darauf provisorisch, aber mit Sorgfalt angerichtete Speisen und Getränke. Das Ganze an einem ausgesuchten Ort in angenehmer Umgebung. Man kann es allein genießen. Zu zweit oder mit mehreren. Ich stelle mir erwünschte Einsamkeit und Kontemplation im besten Sinne vor. Oder auch angenehme Gesellschaft, gut gelaunte Menschen, plaudernde Konversation bei mindestens passablem Wetter an einem Fleckchen Natur, das nicht hässlich ist. Vielleicht mit schöner Aussicht.
Der Weg, das kann vieles bedeuten. Ein zufälliger Streckenabschnitt von A nach B eingescannt im Navigationsgerät. Oder, bildhaft gesehen, ein Synonym für das eigene persönliche Leben oder auch die Entwicklung der beruflichen Karriere. Der Weg kann bequem, geradlinig und direkt und effizient sein. Aber auch mühevoll, steinig, ausgetreten, verzweigt, verschlungen, krumm, sinnlos. Eine Sackgasse.
Man kann sich auf dem falschen Weg befinden oder auf dem Einen, dem Richtigen. Und es gibt den anonymen Weg als Teil eines Systems, als Ausschnitt aus einer Netzstruktur. In der man unterwegs sein kann. Sich verlieren kann. Permanent mobil. Permanent online.
Ein Kunstwerk empfinde ich als unterhaltsamen Break. Bildhaft ausgedrückt: Wie ein Picknick am Wegesrand. Das Leben gönnt sich eine kleine ästhetische Unterbrechung. Es nimmt gedanklich auf einer hübschen Plattform Platz und betrachtet sich selbst. Der Betrachter entfernt sich nicht vollständig von seinem konkreten Wege- und Bezugssystem. Dieses bleibt in Sichtweite, er am Wegesrand.
Aber doch klinkt man sich aus, pausiert von den Anstrengungen des Unterwegsseins, schaltet ab. Und betrachtet aus einer entspannten Lage seine Umgebung und vielleicht auch die eigene Mission. Aus einer neuen Perspektive. Mit Muse. Mit Leichtigkeit. Mit Distanz. Und deshalb möglicherweise abstrakter. Und nimmt Dinge wahr, die man vorher nicht gesehen hat. Nicht gewittert hat.
Ganz andere Assoziationen hatten offenbar die russischen Schriftsteller und Gebrüder Strugatzki. 1971 brachten Arkadi und Boris Strugatzki eine phantastische Erzählung heraus, deren Titel in seiner deutschen Übersetzung „Picknick am Wegesrand“ (1976) heißt. Der Roman handelt unter anderem von sogenannten Zonen auf der Erde, über welche die Erdbewohner spekulieren. Hier soll es einen Besuch von Außerirdischen gegeben haben. Die Besucher, wie die geheimnisvollen Außerirdischen im Buch respektvoll genannt werden, hinterließen seltsame Phänomene und märchenhafte Überbleibsel von denen eine große Anziehungskraft, aber auch etwas lauernd Unheimliches ausgeht. Eine goldene Kugel mit magischen Fähigkeiten zum Beispiel, die Wünsche erfüllen kann.
In einer Interpretation heißt es, dass die Autoren den Titel „Picknick am Wegesrand“ für ihren Zukunftsroman heranzogen, weil sich für sie damit die Vorstellung verband, die Besucher hätten die Erdbewohner weder wahrgenommen noch verstanden. Die Besucher verhielten sich also ganz so, als ob sie gedankenlos ein Picknick am Wegesrand gemacht hätten. Sodann hätten sie sich wieder auf ihren Weg gemacht und verschwanden für immer. Sie hinterließen in den Zonen achtlos die Reste ihres Picknicks, jene mysteriösen Überbleibsel, von welchen nun sowohl Faszination wie auch Gefahr ausgeht.
Zusammenfassend: sehr vielseitig und zum Teil grundverschieden sind die Einfälle und die Auseinandersetzung, die man zu und mit „Picknick am Wegesrand“ haben kann, das sollten die bis hierher ausgeführten Überlegungen darlegen. Es scheint stark von der eigenen Perspektive abzuhängen, wie man seine Umgebung, seine Zeit und sich selbst darin wahrnimmt und interpretiert.
Auch die Wege, welche Informationen nehmen, sind manchmal offensichtlich, manchmal verborgen. In Stuttgart, Paris, Karlsruhe, Dresden, Berlin und München bin ich fündig geworden und habe mit großem Vergnügen Kunstwerke von Helga Fanderl, Susanne Gertrud Kriemann, Susanne Klary, Verena Klary, Patricia London Ante Paris, Nadine Maisenbacher, Susa Reinhardt, Susanne Starke entdeckt, die jeweils eine eigene Perspektive aufwerfen und die zu diesem von mir von langer Hand vorbereiteten Thema einer von mir kuratierten Gruppenausstellung parallel zu meinem eigenen Werk passen würden. Text: Simone Westerwinter
HELGA FANDERL (* 1947 in Ingolstadt, lebt und arbeitet in Frankfurt und Paris)
Ich mache Film, entdecke mit der Super8- Kamera Ereignisse in der Wirklichkeit, die mich fesseln und die ich erkunde. Ich antworte direkt und konzentriert auf ein Geschehen. Ich greife Rhythmen auf, animiere was unbewegt scheint, und erzeuge visuelle Rhythmen mittels Kameraschnitt – d.h., durch Ein- und Ausschalten der Kamera. So wächst ein Film ausschließlich in der Kamera und in meiner Vorstellung. Es gibt keine Postproduktion. Jeder Film bewahrt und reflektiert die Spuren seiner Entstehung. Wahrnehmen, Aufnehmen und filmischer Gestus fallen zusammen. Ich fange den erlebten Augenblick ein. Seit der zweiten Hälfte der 80er ist ein umfangreiches Werk entstanden – viele hundert kurze Filme. Für eine Vorführung treffe ich jedes Mal eine Auswahl und komponiere ein besonderes Programm. Das Gestalten von Programmen meiner Filme ist ein wichtiger Teil meiner künstlerischen Tätigkeit. Jede temporäre Montage eines Programms von ca. 50 bis 60 Minuten Gesamtdauer steht beispielhaft für mein Werk als Ganzes. In unterschiedlichen Konstellationen verändert sich die Bedeutung der einzelnen Filme. Mein Werk bleibt so offen für unterschiedliche Weisen des Sehens und Verstehens. Text: Helga Fanderl
SUSANNE KLARY (* 1980 in Heidelberg, lebt und arbeitet in Karlsruhe)
Susanne Klary arbeitet im Bereich Zeichnung bzw. Mischtechnik auf Papier. Meist sind es Personen, die sich in einer traumähnlichen Umgebung befinden. Sie weilen inmitten von Bruchstücken der Realität, zwischen Erinnerung und Gegenwart, abseits einer linearen Zeitabfolge, wie z.B. im Traum. „... wenn man unter Träumen nicht nur die maßkonfektionierten Klischees der Konsumgesellschaft versteht, sondern die sich auf verschlungenen Wegen vollziehende Auseinandersetzung konkreter Individuen mit unterschiedlichsten Bewusstseinsinhalten.“ (K. Dussel, BNN, 17.02.2009). Die Künstlerin nutzt Papier nicht als reinen Bildträger und erforscht die Erweiterung des Bildes durch verschiedene Techniken des Ausschneidens und Aufklebens. In Susanne Klarys Arbeit wird dem Betrachter eine innere Welt veranschaulicht in der es um menschliche Beziehungen und philosophische Fragen geht. Sie ergründet diesen Themenbereich in künstlerischer Weise. Es geht ihr darum, „zu grundlegenden Fragestellungen vorzudringen – solchen, mit denen sich die Menschen über Jahrhunderte hinweg und ungeachtet ihres zivilisatorischen Standes auseinander setzen mussten und müssen.“(Michael Hübl, „Was sich zwischendrin zeigt“, BNN, 11. Aug. 2006). Text: Susanne Klary
VERENY KLARY (* 1980 in Heidelberg, lebt und arbeitet in Karlsruhe)
Die Motivation meiner Arbeit stammt von dem kontinuierlichen Versuch sowohl die Natur des Lebens als auch die Natur der Dinge zu begreifen. Fragmente verschiedenster Lebensbereiche treffen in meiner Arbeit aufeinander. Wenn sie sich gegenseitig beeinflussen und kommentieren kann man in den kleinsten Gesten und Zufällen einen Zusammenhang erkennen. Die Arbeiten entstehen im Prozess durch Weiterverarbeiten, Weiterdenken und Weiteruntersuchen: Wenn der Tag mehr Stunden hätte, dann wären die Worte vielleicht farbig und jedes Ding hätte eine Laune. Man könnte die Vergangenheit und die Zukunft mitflimmern sehen.
Was wäre wenn da noch eine Stunde mehr wäre? – Was wäre, wenn es hinter dem fehlenden Eck im Boden weiterginge? – Wo führte das hin? – Was würde danach kommen können? Ich will so die Beschaffenheit der Dinge erkunden, bzw. deren Materialität näher kommen. Nicht Wahrnehmen und Festhalten wie etwas ist, sondern zu denken, wie es weitergehen könnte – das Potenzial sehen. Text: Verena Klary
SUSANNE KRIEMANN (* 1972 in Erlangen, lebt und arbeitet in Berlin)
Susanne Kriemann erkundet seit Jahren in ihren komplex eingerichteten Installationen den Einfluss von Dokumentation und Archivierung auf unsere Wahrnehmung von Realität. Die Fotografien der Künstlerin richten ihren Fokus auf scheinbar beiläufige Szenen, die entweder mit Bedeutung aufgeladen sind oder suggerieren, eine solche zu besitzen. Sie zeigen eine Zone der Verunsicherung, in der Gegenstände oder architektonische Details von Kontexten sprechen, die der Fotografie selbst äußerlich bleiben und auch über den Titel nicht eingeholt werden. Auch der Bildtitel fügt sich der Bildkomposition wie eine kommentierende Ebene hinzu, die suggestiv bleiben muss. Text: Berlinische Galerie
PATRCIA LONDON ANTE PARIS (* 1959 in München, lebt und arbeitet in München)
Patricia London hat in Bildern, Skulpturen und Performances, mit Texten im öffentlichen Raum, Künstlerzeitschriften und kooperativen Projekten seit den 1980er Jahren die so genannte gesellschaftliche Normalität als eigentlichen Terror identifiziert, dem intellektuell nur im Rekurs auf historisch glaubwürdige und geistig substantielle Ausformungen von Anarchie, antiautoritärer Ich-Stärkung und politisch-visionärem Humanismus zu begegnen ist. Ihre Untersuchungen zu den gesellschaftlichen Ausformungen patriarchaler Strukturen – die kritische Reflexion von korporativer Macht und Kapitalismus – hatte von Beginn eine Parallele in ihrer Beschäftigung mit den Erkenntnissen der Matriarchatsforschung.
Ihr Beitrag zur Ausstellung „die gelbe Form (Protest)“ ist ein aktueller Kommentar zu Protestformen inspiriert von den Sitzstreiks entlang der Strassen und Schienen des Castortransports. Eine Interpretation der mysteriösen Gegenstände aus dem Roman »Picknick am Wegesrand« erscheint auf dem Bild „Die gelbe Form (Protest)“. Es ist eine Markenkralle, mit der Bahnen zum entgleisen gebracht werden können. Die utopisch konzertierte Protestaktion in ferner Zukunft imaginiert eine egalitäre Gesellschaft. Text: Renate Wiehager / Patricia London Ante Paris
NADINE MAISENBACHER (* 1977 in Liebelsberg, lebt und arbeitet in Stuttgart)
Quellen meiner Arbeit bilden unter anderem die Literatur der Romantik und Märchenwelt. Eine tragende Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Naturerlebnis, welches sich aus der Wahrnehmung, der sich in direkter Umgebung befindenden Flora und Fauna des Schwarzwaldes ergibt. Darüber hinaus die Wahrnehmung bestimmter lebloser Gegenstände, welche sich mit der Erinnerung oder bestimmten Erfahrungswerten verknüpft, in meiner Arbeit über ihre bloße Erscheinung hinaus, zu einem transzendenten Bildraum erweitern. Gestalten der Märchenwelt tauchen auf, die weiterentwickelt werden und übernatürliche Kräfte zu besitzen scheinen: Ein gefräßiger Weltkönig, welcher sich nicht mehr als Sammler menschlicher Herzen zufrieden gibt, sondern zum Kannibalismus übergeht; eine Schneekönigin, die in einen Bergkristall verwandelt erscheint; ein Glasmännlein, welches als so genannter „Fougère“ mit Farn getarnt als guter Waldgeist wandelt und ein riesenhafter Tannenzapfen, der den vanilleartigen Duft des Heliotrops verströmt.
Bei meinen neuesten Arbeiten der Reihe der mystischen Kompositionen handelt es sich um die Anordnung abstrahierter Elemente. Assoziationsmöglichkeiten werden freigelegt, welche aber je nach Erfahrungshintergrund des Betrachters individuell bleiben. Feste inhaltliche Erklärungsmuster werden aufgehoben oder verharren in der rein formalen Analyse der bildnerischen Elemente und deren Wirkung. Text: Nadine Maisenbacher
SUSA REINHARDT (* 1967 in Waiblingen, lebt und arbeitet in Stuttgart)
Susa Reinhardts Interesse gilt der Landschaft als kulturhistorisch geprägtem Bildcode und Konstrukt aus unterschiedlichen Zeichen. Ihr eigener Gegenentwurf zu einer romantisch und mystisch-monumentalen Landschaftsmalerei artikuliert sich in der Verarbeitung verschiedener Phänotypen der Natur. Bäume, Felder, Schluchten, Seen und Wiesen schaffen eine märchenhafte und zugleich unheimliche Atmosphäre, die durch eine stark an den Trickfilm und Comics angelehnten Stil entsteht. In Ihren neueren Arbeiten zeigt sich Susa Reinhardts Auseinandersetzung mit der Natur bereits in der Wahl der Bildträgers. Als Untergrund für die Darstellung der Natur dient ihr nicht mehr nur die Leinwand, sondern der Stoff, den sie zuvor u.a. mit dem Schmutz der Straße vorbehandelt.
Durch ihre Motivwahl und die Wiederholung verdichtet sich die Arbeit von Susa Reinhardt zu einer Reflexion über das Verhältnis zur Natur welches durch die Identifizierungs- und Ordnungsprozesse erzeugt wird, die bei der Betrachtung von Natur stattfinden. Diese wiederum leiten sich aus einer Funktionsbeziehung ab, die kulturell und historisch veränderlich ist. Die vordergründige Idylle in Susa Reinhardts Bildern gibt genau die Vorstellung von Natur als lieblich und erholsam wieder, die unsere Sehnsucht sucht. Text: Jasmina Hskic
SUSANNE STARKE (* 1973 in Stuttgart - Bad Cannstatt, lebt und arbeitet in Berlin)
Impulsgeber für die figürlichen Arbeiten der Künstlerin Susanne Starke sind häufig Motive aus der Kunstgeschichte und Literatur, die sie in ihre eigene, dem Betrachter seltsam vertraute Bildsprache übersetzt. Dabei vereint sie in ihren realistisch anmutenden Plastiken hauptsächlich mythologisch-religiöse Geschichten mit allegorischen Bildern aus den Volks- und Kunstmärchen. Es scheint, als ob die von ihr geschaffenen, dreidimensionalen Figuren mittels Zauberei in völliger Bewegungslosigkeit erstarrt seien und einem Dornröschenschlaf gleich ihrer Erweckung harren, um die gerade begonnene Tätigkeit wieder aufzunehmen. (Nadia Ismail)
Eigens für die Ausstellung »Picknick am Wegesrand« hat die Künstlerin eine Bodenplastik mit dem Titel »Satyr« geschaffen. Starke stellte sich vor, wie eine Gruppe von Stadtbewohnern einen Ausflug in die Natur macht und sich – vielleicht am Waldrand – zu einem Picknick niederlässt, wobei ein Horde fremder Wesen aus dem Wald stürmt, tanzt, hüpft und sich über Speis, Trank und die Stadtbewohner selbst hermacht. Aubrey Beardsley beschreibt eine solche Begegnung in seiner »Erotischen Novelle«.
Der Satyr verkörpert für die Künstlerin Lust, Rausch, Ekstase und Zügellosigkeit. Die Maske markiert eine Grenze zwischen innerem und äußerem Sein des Menschen. Gleichzeitig kann sie etwas von den Konflikten des Trägers erzählen. Die goldene Kugel kennen wir aus den Märchen – sie kommt auch im »Picknick am Wegesrand« vor. Sie erfüllt alle Wünsche. Sie wirft eine der interessantesten Fragen auf: Wenn alle Wünsche in Erfüllung gingen, was würden Sie sich wünschen? Text: Susanne Starke