Simone Westerwinter

Simone Westerwinter »Picknick am Wegesrand«

4. Februar - 26. März 2011

Picknick ist etwas Schönes, Sinnliches, eine Pause die man sich gönnt, ein fröhlicher Moment, ein genussvoller Augenblick der Stärkung. Eine karierte Tischdecke im Grünen. Darauf provisorisch, aber mit Sorgfalt angerichtete Speisen und Getränke. Das Ganze an einem ausgesuchten Ort in angenehmer Umgebung. Man kann es allein genießen. Zu zweit oder mit mehreren. Ich stelle mir erwünschte Einsamkeit und Kontemplation im besten Sinne vor. Oder auch angenehme Gesellschaft, gut gelaunte Menschen, plaudernde Konversation bei mindestens passablem Wetter an einem Fleckchen Natur, das nicht hässlich ist. Vielleicht mit schöner Aussicht.
Der Weg, das kann vieles bedeuten. Ein zufälliger Streckenabschnitt von A nach B eingescannt im Navigationsgerät. Oder, bildhaft gesehen, ein Synonym für das eigene persönliche Leben oder auch die Entwicklung der beruflichen Karriere. Der Weg kann bequem, geradlinig und direkt und effizient sein. Aber auch mühevoll, steinig, ausgetreten, verzweigt, verschlungen, krumm, sinnlos. Eine Sackgasse.
Man kann sich auf dem falschen Weg befinden oder auf dem Einen, dem Richtigen. Und es gibt den anonymen Weg als Teil eines Systems, als Ausschnitt aus einer Netzstruktur. In der man unterwegs sein kann. Sich verlieren kann. Permanent mobil. Permanent online.
Ein Kunstwerk empfinde ich als unterhaltsamen Break. Bildhaft ausgedrückt: Wie ein Picknick am Wegesrand. Das Leben gönnt sich eine kleine ästhetische Unterbrechung. Es nimmt gedanklich auf einer hübschen Plattform Platz und betrachtet sich selbst. Der Betrachter entfernt sich nicht vollständig von seinem konkreten Wege- und Bezugssystem. Dieses bleibt in Sichtweite, er am Wegesrand. Aber doch klinkt man sich aus, pausiert von den Anstrengungen des Unterwegsseins, schaltet ab. Und betrachtet aus einer entspannten Lage seine Umgebung und vielleicht auch die eigene Mission. Aus einer neuen Perspektive. Mit Muse. Mit Leichtigkeit. Mit Distanz. Und deshalb möglicherweise abstrakter. Und nimmt Dinge wahr, die man vorher nicht gesehen hat. Nicht gewittert hat.
Ganz andere Assoziationen hatten offenbar die russischen Schriftsteller und Gebrüder Strugatzki. 1971 brachten Arkadi und Boris Strugatzki eine phantastische Erzählung heraus, deren Titel in seiner deutschen Übersetzung „Picknick am Wegesrand“ (1976) heißt. Der Roman handelt unter anderem von sogenannten Zonen auf der Erde, über welche die Erdbewohner spekulieren. Hier soll es einen Besuch von Außerirdischen gegeben haben. Die Besucher, wie die geheimnisvollen Außerirdischen im Buch respektvoll genannt werden, hinterließen seltsame Phänomene und märchenhafte Überbleibsel von denen eine große Anziehungskraft, aber auch etwas lauernd Unheimliches ausgeht. Eine goldene Kugel mit magischen Fähigkeiten zum Beispiel, die Wünsche erfüllen kann.
In einer Interpretation heißt es, dass die Autoren den Titel „Picknick am Wegesrand“ für ihren Zukunftsroman heranzogen, weil sich für sie damit die Vorstellung verband, die Besucher hätten die Erdbewohner weder wahrgenommen noch verstanden. Die Besucher verhielten sich also ganz so, als ob sie gedankenlos ein Picknick am Wegesrand gemacht hätten. Sodann hätten sie sich wieder auf ihren Weg gemacht und verschwanden für immer. Sie hinterließen in den Zonen achtlos die Reste ihres Picknicks, jene mysteriösen Überbleibsel, von welchen nun sowohl Faszination wie auch Gefahr ausgeht.
Zusammenfassend: sehr vielseitig und zum Teil grundverschieden sind die Einfälle und die Auseinandersetzung, die man zu und mit „Picknick am Wegesrand“ haben kann, das sollten die bis hierher ausgeführten Überlegungen darlegen. Es scheint stark von der eigenen Perspektive abzuhängen, wie man seine Umgebung, seine Zeit und sich selbst darin wahrnimmt und interpretiert.
Auch die Wege, welche Informationen nehmen, sind manchmal offensichtlich, manchmal verborgen. In Stuttgart, Paris, Karlsruhe, Dresden, Berlin und München bin ich fündig geworden und habe mit großem Vergnügen Kunstwerke von Helga Fanderl, Susanne Gertrud Kriemann, Susanne Klary, Verena Klary, Patricia London Ante Paris, Nadine Maisenbacher, Susa Reinhardt, Susanne Starke entdeckt, die jeweils eine eigene Perspektive aufwerfen und die zu diesem von mir von langer Hand vorbereiteten Thema einer von mir kuratierten Gruppenausstellung parallel zu meinem eigenen Werk passen würden. Text: Simone Westerwinter.

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Simone Westerwinter (*1960 in Stuttgart, lebt in Stuttgart, D)

Simone Westerwinter beschäftigt sich in ihrem medial weit gespannten Werk – seit Ende der 1980er Jahre umfasst dies Bilder, Objekte, Skulpturen, Videos, Regieperformances sowie temporäre Projekte mit Musikern und Schauspielern – mit den Strukturen und dem ›Relief‹ zeitgenössischen Bewusstseins. Wie prägt sich das musterhafte Relief unserer Wahrnehmung den Phänomenen der Gegenwart auf? Und wie wird unser Denken in Polaritäten von Struktur versus Chaos, Ordnung versus Unordnung, Perfektion versus rohe Nachlässigkeit aus den Phänomenen selbst heraus ansichtig? Hineingestellt in diese Polarität involvieren Westerwinters Arbeiten Kunstwerk und Betrachter in eine Entscheidungssituation: das Kunstwerk als Entscheidungsplastik. Text: Renate Wiehager.

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Simone Westerwinter »Sweet Structures«

11. September - 18. Oktober 2008

Es ist ein wundersames Setting, in welches Simone Westerwinter die Besucher ihrer Ausstellung ’Sweet Structures’ entlässt. Kaleidoskopisch aufgespannt in einem Motivfeld von Boxkampf, Jahrmarkt, Spinnennetzsymbolik, Requisiten weiblicher (Selbst-) Darstellung sowie scheinbar konkretistischen Verweisen fügen sich Arbeiten verschiedenster medialer Ausprägungen zusammen. In ’structure 1 – Yes’ und ’structure 2 – No’ steht hellblaue gegen rosafarbige großformatige monochrome Farbfeldmalerei, im beständigen Wettstreit hauchen sie dem Betrachter in zuckrig und kristallin glitzernden Buchstaben ihre konträren Botschaften entgegen.

Sollte dies Hunger auf Süßes oder aber Streitlust geweckt haben, die Performanceskulptur ’Sweet Structures, homemade’ in der Mitte des Raumes verspricht, beides zu stillen. Ein grellpink-rohweiss karierter Marktstand lädt ein, sich zu entscheiden – für die von Simone Westerwinter selbst zubereitete, verführerisch duftende warme Zuckerwatte oder für das Emblem männlicher Härte nach einem durchgestandenen Kampf, das blaue Auge, das Veilchen, von Simone Westerwinter nicht durch einen Schlag, sondern in der weiblichen Ausdrucksform des Schminkens beigebracht – aufgemalt nach vorherigem zärtlichen Maßnehmen der Visage mit einem Boxhandschuh. Der Besucher der Ausstellung darf bestimmen, ob er den Marktstand als Zuckerwattestand oder Schminktisch nutzt, er darf sich entweder eine Skulptur einverleiben, ihre wohlige Süße in den eigenen Organismus übergehen lassen, oder er nimmt sie in Form des blauen Auges mit und setzt selbst die Performance außerhalb des Galerieraumes fort, setzt sich den Blicken, Fragen, Ver- und Bewunderungen aus.

Wie auch immer sich die Besucher entscheiden, ringsum des Marktstandes werden sie ihrer Zuckerwatte oder ihrem Veilchen wiederbegegnen. Auf den kleinformatigen Tuschezeichnungen der Serie ’Structures – Bilder einer Ausstellung’ posieren leicht oder gar nicht, bisweilen mit Boxhandschuhen bekleidete attraktive Frauen vor angedeuteten Gemälden im Hintergrund, hauen sich ein bisschen, zeigen neckisch ihr blaues Auge, tragen ihre Wunden mit Eleganz und Leichtigkeit als stylische Accessoires. Auf den großformatigen Seidenmalereien der Serie ’Structure 3-7’ räkeln sie sich vor Spinnennetzen, welche die zum Kokon verwobene Struktur der Zuckerwatte in einer geometrisch geordneten Form wieder auferstehen lassen, und auf einmal ist es überall, das Spinnennetz: Spannt sich auf zwischen den in Kämpfe verwickelten Männern der gezeichneten Serie ’structures – businessmen’ und zwingt sie in Stillstand aneinander, es findet sich wieder auf dem als Performanceutensil genutzten Boxhandschuh von Simone Westerwinter, die nun zur Spinnenfrau werdend, ihre Fäden zu ’Sweet structures’, zu Zuckerwatteskulpturen zu verkleben scheint – so vergänglich, wie die althergebrachte Vanitas-Symbolik des Spinnennetzes es nahelegen möchte - aber auch so gefährlich, wie eine andere Lesart des Spinnennetzes als Symbol für die Gefährlichkeit weiblicher Verführungskünste vorschlägt? Die Künstlerin als Spinne, unermüdlich ein Netz von Verweisen und Gegensätzlichkeiten webend, in welchem sich der Betrachter gefangen findet, um dann Faden für Faden die Struktur zu erforschen, die allem, was sich ihm visuell in der Ausstellung darbietet, zugrunde liegt?

So ungleichartig und heterogen sich die ausgestellten Werke in ihrer Thematik und Materialität auch darbieten mögen, ebenjene Diversität und Heterogenität des Dargestellten sowie dessen mediale Ausprägungungen haben ihren Ursprung in einem künstlerischen Kalkül des Disparaten: Was hier gesetzt wird und sich durch die Form dieser Setzung gleichzeitig beim Betrachter in Gang setzt ist eine Verweisstruktur, ein fortwährendes Verweisen, indem eine bestimmte thematische als auch materiale Erscheinungsweise es stets erlaubt, auf ein entgegengesetztes Phänomen Bezug zu nehmen und im Zuge dieses Herstellens und Auffindens von Bezüglichkeiten auf ebenjenen Prozess des In-Beziehung-Setzens selbst zu reflektieren.

Sehe ich ein rosa, so finde ich auch ein Hellblau, registriere ich ein „Ja“, so werde ich auch einem „Nein“ begegnen. Lasse ich mich ein auf die (männliche) Symbolik des Boxkampfes als gesellschaftliches Ritual mit ganz eigener Bild- und Körpersprache, so muss ich die verbindenden Elemente finden, die mit dem Prinzip der Schönheit, der Weiblichkeit und der Fragilität und Süße von Zuckerwatte vermitteln. Wende ich mich Werken zu, die sich abstrahierender und konkreter Ausdrucksformen bedienen, so begebe ich mich damit auch auf die Suche nach deren Zusammenhang mit den vermeintlich anders funktionierenden gegenständlichen Arbeiten.

Ein Umgang mit der Verschiedenheit der Erscheinungsweisen und Eindrücke, das Bemühen um Sortierung und Einordnung, das Aufspüren von Zusammenhängen, die Strukturierung des Wahrgenommenen und Passung in die eigenen Kategorien des Wissens vollzieht sich mithilfe eines Vermögens, das im Brennpunkt des Interesses von Simone Westerwinter steht und den Kern ihrer künstlerischen Arbeit bildet: Das Vermögen der Strukturierung und sein Ausdruck in Strukturen verschiedenster Ausprägung, deren Zusammenhang mit den Prinzipien der Abstraktion und der Ornamentalisierung.

Struktur, so lehrt uns unser eigenes Ausbalancieren der scheinbar gegensätzlichen und vielfältigen Eindrücke von ’Sweet Structures’, ist nur bedingt eine empirische Gegebenheit, ist immer auch das Ergebnis unseres zueinanderfügenden, sortierenden und abstrahierenden Zugriffs auf unser gegenständliches Umfeld und unsere Wahrnehmungen selbst. Die hierbei entstehenden strukturierten Gefüge sind aber immer auch die Folge einer Negation von etwas, einer Festlegung auf etwas Bestimmtes und damit die Verdrängung von etwas anderem, ebenso von allem Ambivalenten und Unbestimmten. Eine Struktur, die unter Ausschluss jeglicher Gegensätzlichkeiten und negativer Momente ersteht und die jegliches reflexives Einholen des Ausgeschlossenen verwehrt, kann zu Dekoration werden. ’Erziehung durch Dekoration’ ist dann konsequenterweise der Titel einer 1990 begonnenen Werkgruppe. Dekoration in Simone Westerwinters Sinne bezieht sich aber in einer positiven Wendung immer auch auf jene Eigenschaften, die sich laut einer bestimmten Rezeptionsweise abstrakter avantgardistischer Kunst in einem Kontext, der sich mit Farbe und Form auseinandersetzt, nicht finden dürfen: Sinnhaftigkeit, Erzählung, Unreinheit, emotionales Involviertsein.

Es ist ein Kunstgriff von Simone Westerwinter, wenn ihre Arbeiten durch die Wahl einer alltäglichen Motivik und einer ironischen Perspektive stets oszillieren zwischen verschiedenen Seinsweisen: Dem Moment, in dem ein Werk noch nicht Kunst ist, also Alltagsgegenstand oder –geschehen ist; dem Moment, der ein Werk durch eine bestimmte Rezeption in das Dekorative verweist und dem Moment, in dem sich durch die Erkenntnis einer dem Werk zugrunde liegenden Struktur das Konkrete zum Abstrakten wandelt. So ist es Sache des Betrachters, ob er sein blaues Auge lediglich als Coolness versprechenden Lidschatten und Dekoration seiner selbst oder eben als Skulptur nach Hause trägt und damit als ein größere Zusammenhänge aufzeigendes Ornament, welches auf die soziale Semantik des Boxens verweist, auf die Strukturiertheit gesellschaftlichen Handelns und das eigene Eingebundensein in das zutiefst ambivalente Prozedere von Kunst und Gesellschaft. Text: Antje Géra, Galerie Parrotta .